Interview: Warum so aggressiv?

Published On: 17. Januar 2025

Über Stressfaktoren, Hass im Netz und Testosteron: Professorin Ute Habel von der RWTH Aachen spricht im Interview über die Facetten von Aggression.

In der Interviewreihe „Große Fragen“ beantworten Expertinnen und Experten der RWTH Fragen, die die Welt bewegen. Ute Habel ist Professorin für Neuropsychologische Geschlechterforschung und Sektionsleiterin sowie Leitende Psychologin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Medizinischen Fakultät und Uniklinik der RWTH Aachen.

Sie hat in Tübingen promoviert und in Wien habilitiert. Nach Zwischenstation in Düsseldorf kam sie nach Aachen, wo sie seit 2009 eine Professur innehat. Seit 2018 ist sie Prorektorin für Internationales der RWTH.

Ihre Forschungsinteressen liegen bei den neurobiologischen und neuropsychologischen Grundlagen von Emotionen und Geschlechtsunterschieden bei Gesunden und Patienten mit psychischen Störungen. Als psychologische Psychotherapeutin untersucht sie auch psychotherapeutische und weitere Interventionen bezüglich ihrer Effekte.

 

Wann haben Sie aggressives Verhalten zuletzt erlebt?

Tatsächlich wenig außerhalb des Arbeitskontextes, der Forschung oder Klinik. In Form verbaler Aggression beispielsweise mit meinem Sohn, der mit Dingen nicht einverstanden ist und mir dann ordentlich Kontra gibt.

Ist Ihr Sohn in der Pubertät?

Ja, genau. 18 Jahre alt, schwierige Umstellungsphase von der Schule auf das Leben.

Verständlich. Können Sie mir erklären, was Aggression überhaupt ist?

Aus psychologischer Sicht ein komplexes Konstrukt, weil es sehr viele Einflussfaktoren und Erscheinungsformen gibt: Verbal, körperlich, indirekt oder direkt. Man unterscheidet zwischen instrumenteller und reaktiver Aggression. Letztere ist sozusagen die Reaktion einer Person auf Provokation, Bedrohung oder Frustration.

Eine sehr emotionale Form, die meistens auch eine „Ärgerreaktion“ hervorruft. Instrumentelle Aggression ist die, die mehr “cold blooded”, also kaltblütig, durchgeführt wird. Das heißt, man verhält sich aggressiv, um ein bestimmtes Ziel oder eine Belohnung zu erreichen. Sie wird bewusst und wohlüberlegt eingesetzt und nicht als Reaktion auf eine Provokation gesehen. In der Realität lassen sich bei einer Person, die mit Aggressionen auffällt, oft beide finden.

Was ist die gängigste Definition?

Aggression ist ein Verhalten, das darauf abzielt, eine andere Person zu schädigen, die aber bemüht ist, diesen Schaden abzuwenden.

„Menschen lernen bereits von Kindheit an, ihre aggressiven Impulse zu kontrollieren“

Kann man in diesem Kontext von gesund und ungesund sprechen?

Durchaus. Als emotionsgesteuertes Verhalten hat Aggression eine wichtige evolutionäre Funktion, die sowohl beim Menschen als auch im Tierreich zu finden ist. Sie diente dem Überleben durch die Verteidigung von Nachkommen, ermöglichte den Zugang zu Ressourcen und sorgte für die Erhaltung bzw. Erhöhung des sozialen Status. In der heutigen Gesellschaft wird Aggression allerdings sozial weniger toleriert.

Inwiefern?

Menschen lernen bereits von Kindheit an, ihre aggressiven Impulse zu kontrollieren, wobei sich die Fähigkeit zur Emotionsregulation mit zunehmendem Alter verbessert. Bei der Bewertung von Aggression wird zwischen inadäquatem und angemessenem Verhalten unterschieden, wobei die Grenzen fließend sind. Besonders häufig tritt sie im Zusammenhang mit psychischen Störungen auf.

Die aktuelle Forschung beschäftigt sich damit, wie eng dieser Zusammenhang ist und wo genau die Grenze zwischen adäquater und pathologischer Aggression verläuft. Dabei stellt sich auch die Frage, wie stark dies mit der jeweiligen psychopathologischen Symptomatik zusammenhängt.

Pathologisch ist Aggression dann, wenn sie nicht mehr proportional zum Auslöser der Aggression ist, von sozialen Normen abweicht, das soziale Verhalten beeinträchtigt oder sogar mit gewalttätigem und kriminellem Verhalten einhergeht.

Gibt es Erkrankungen, bei denen Aggression zwangsläufig auftritt?

Ja, bei fast allen psychischen Störungen. Bei antisozialer Persönlichkeitsstörung ist kriminelles, aggressives Verhalten sehr häufig, auch bei dem Phänomen der Psychopathie. Was einen nicht zur Schlussfolgerung veranlassen sollte, Menschen mit psychischen Störungen sind alle aggressiv.

Einige Erkrankungen wie die Borderline-Persönlichkeitsstörung, die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung oder Suchterkrankungen, um nur einige zu nennen, weisen ein erhöhtes Auftreten von aggressivem Verhalten auf. Auch die Schizophrenie gehört beispielsweise dazu, aber eben auch Depressionen. Aggressives Verhalten manifestiert sich dabei auf unterschiedliche Weise.

Die Pandemie als zusätzlicher Stressfaktor

Trotz erlernter Aggressionskontrolle – wird unsere Gesellschaft nicht immer feindseliger?

Wir beobachten ein erhöhtes Auftreten von aggressivem Verhalten bei Kindern bis hin zu Jugendlichen, was häufig ein zeitlich begrenztes Phänomen darstellt. Dies gilt auch für kriminelles Verhalten, meist geht dies aber von alleine zurück. Wir lernen von Kindesbeinen an bis über die Pubertät hinaus kein aggressives Verhalten zu zeigen und auch Ärger und Wut zu kontrollieren. Das ist sicher ein wichtiger Entwicklungsschritt, den wir alle machen, unter guten, geeigneten Bedingungen, wo alles so läuft, wie man es erwarten würde.

Gibt es Ausnahmen?

Ja, denn das kann auch an jeder Stelle individuell schieflaufen. Manche Menschen zeigen dauerhaft aggressive Verhaltensweisen oder entwickeln diese erst nach der Pubertät. Die gesellschaftliche Entwicklung von Aggression lässt sich unter anderem an der Rate von Gewaltstraftaten messen. Nach einem längeren Abwärtstrend ist diese in den letzten Jahren wieder angestiegen.

Experten führen dies auf erhöhte Belastungsfaktoren zurück, die unter anderem durch die Pandemie sowie durch demografische und gesellschaftliche Veränderungen entstanden sind. Diese zunehmenden Stressfaktoren könnten demnach zu einem Anstieg aggressiven Verhaltens in der Gesellschaft beitragen.

Können Sie uns Zahlen nennen?

Der Anstieg war recht bezeichnend: 17 Prozent. Häusliche Gewalt gegen Frauen ist um über 8 Prozent gestiegen. Das ist viel.

Welche Rolle spielen dabei Stress und Unsicherheit?

Stress ist ein Trigger, denn Aggressionssystem und Stresssystem sind eng gekoppelt. Letztendlich sind wir, wenn wir aggressiv agieren, in einer Stresssituation und die Stressachse wird mit aktiviert. Da es sich um Regelkreise handelt, beeinflussen sie sich gegenseitig.

Das wichtigste Hormon des Stresses ist Cortisol und das hängt auch eng mit aggressivem Verhalten zusammen und hat Einfluss auf Testosteron und natürlich auch auf Transmittersysteme, die im Gehirn Denk- und Verhaltensprozesse regulieren.

Testosteron spielt eine „differenziertere Rolle, als häufig angenommen”

Stichwort Testosteron, viele Gewalttaten werden von Männern verübt…

Ja, Frauen sind eher verbal aggressiv. Die Prozentrate der Frauen, die gewalttätig kriminell werden, ist relativ niedrig.

Welche Rolle spielt dabei Testosteron?

Eine differenziertere Rolle, als häufig angenommen. Während bei Tieren ein starker direkter Zusammenhang besteht, ist die Situation beim Menschen komplexer. Laborexperimente zeigen zwar, dass Testosteron aggressives und impulsives Verhalten beeinflussen kann, der Gesamtzusammenhang ist jedoch eher gering.

Testosteron verstärkt vor allem das in der jeweiligen Situation strategisch sinnvolle Verhalten: In sicheren Situationen kann es prosoziales Verhalten fördern, in bedrohlichen verstärkt es aggressives Verhalten. Wir untersuchen in Experimenten ganz systematisch, was das Hormon in Abhängigkeit vom Kontext bewirkt, wenn wir diesen manipulieren.

Wie sehen solche Experimente aus?

Psychologen haben verschiedene standardisierte Methoden entwickelt, um aggressives Verhalten zu messen. Ein häufig verwendetes Format sind Wettbewerbsspiele, bei denen Teilnehmer gegen einen echten oder computersimulierten Gegner antreten, beispielsweise im Spiel „Stein, Schere, Papier“.

Vor Spielbeginn legt jeder Teilnehmer fest, welche Bestrafung der Verlierer erhalten soll. Diese Bestrafungen können in Form von Geldabzügen, lauten Geräuschen oder Schmerzreizen erfolgen. Das aggressive Verhalten wird dann hauptsächlich durch die Höhe der gewählten Bestrafung gemessen.

Ein typisches Verhaltensmuster zeigt sich, wenn Spieler, die durch den Gegner provoziert wurden, mit ebenfalls immer höheren Bestrafungen reagieren – dies wird als Maß für provozierte reaktive Aggression gewertet. Neben diesen interaktiven Spielen gibt es auch nicht-soziale Testmethoden, wie etwa Experimente mit manipulierten Joysticks, bei denen die Krafteinwirkung bei Frustration gemessen wird. Ergänzend werden stets auch Selbsteinschätzungsfragebögen eingesetzt.

Komplexe Ursachen für Aggression im Netz

Warum ist Hass im Netz so stark ausgeprägt und was sind die Ursachen?

Ein Hauptgrund ist sicher die Anonymität, in der Menschen ohne direkte Konsequenzen aggressiv handeln können. Man bleibt unbekannt und nicht identifizierbar, muss auch in den meisten Fällen keine Konsequenzen fürchten.

Die Ursachen für Online-Aggression sind ähnlich komplex wie bei direkter Aggression: Betroffene haben häufig selbst Gewalterfahrungen oder Traumata erlebt, leiden unter hohem Stress oder Frustration. Ein wichtiger Faktor ist auch der sogenannte “Hostility Bias” – die Tendenz, neutrale Situationen als feindselig wahrzunehmen oder zu interpretieren.

Besonders bei Menschen mit psychischen Erkrankungen kann eine veränderte Wahrnehmung zu übermäßigen aggressiven Reaktionen beitragen. Auch frühe Traumatisierungen, Missbrauchserfahrungen, erlebte Gewalt oder Vernachlässigung sind dabei starke Prädiktoren für späteres feindseliges und aggressives Verhalten.

Unter welchen Umständen kommen gewaltbereite Menschen zu Ihnen in Behandlung?

Patienten kommen entweder freiwillig oder durch Zwangsmaßnahmen, wenn sie in akuten Phasen eine Gefahr für sich selbst oder andere darstellen. Ein besonderes Problem stellt häusliche Gewalt dar, die im persönlichen Umfeld stattfindet und oft lange unerkannt bleibt.

Viele Täter zeigen aber keine Behandlungsmotivation oder Einsicht in ihre Problematik und sind nicht bereit, ihre Gewaltanwendung – sei sie physisch oder psychisch – als solche anzuerkennen oder sich behandeln zu lassen.

Haben die politische Polarisierung und Konflikte Einfluss auf das Aggressionsniveau in der Gesellschaft?

Beides kann das Aggressionsniveau erhöhen, da sie zusätzliche Stressfaktoren darstellen. Diese Konflikte wirken sowohl als Provokationen als auch als langfristige Stressoren, die Unsicherheit und Belastung hervorrufen.

Ähnlich wie bei Krisen wie Corona oder Kriegen, die indirekte Auswirkungen haben, führen politische Konflikte zu wirtschaftlichen und weiteren Belastungen. Der anhaltende Stress kann physiologische und psychologische Veränderungen bewirken, die die Hemmschwelle für aggressives Verhalten senken.

Welche Methoden gibt es, um Aggressionen zu bewältigen?

Verschiedene psychotherapeutische Methoden, die sich auf mehrere Kernbereiche konzentrieren: die Verbesserung der Emotionsregulation, Deeskalationstechniken, Mentalisierung sowie Achtsamkeits- und Entspannungsübungen. Auch die Steigerung oder der Aufbau von Problemlösekompetenzen, besonders im Umgang mit Stress, spielen eine wichtige Rolle.

Dabei ist ein individueller Ansatz entscheidend – es muss zunächst analysiert werden, welche spezifischen Auslöser und Defizite beim Einzelnen vorliegen. Zentrale Fragen sind dabei, ob beispielsweise mangelnde soziale Kompetenzen oder Schwierigkeiten bei der Emotionsregulation die Hauptursachen für das aggressive Verhalten sind. Die Behandlung wird dann entsprechend auf diese individuellen Defizite ausgerichtet.

Gibt es Forschungserkenntnisse, die für die breite Öffentlichkeit relevant sind?

Ja, es gibt viele Befunde, die wir vermitteln und in die Öffentlichkeit tragen müssen. Die Aggressionsforschung liefert wichtige Erkenntnisse für die Gesellschaft, zum Beispiel auch in Bezug auf Gewaltmedien. Meta-Analysen und Forschungszusammenfassungen zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen Gewaltmedien und aggressivem Verhalten besteht, auch wenn der Konsum nicht zu unmittelbaren Gewalthandlungen führt.

Die Forschung vermittelt Hinweise zu Risikofaktoren, aber auch Mechanismen auf verschiedenen Ebenen, die aggressivem Verhalten zugrunde liegen können. Sie betont die Bedeutung der Bewusstseinsbildung auf zwei Ebenen: Zum einen für das individuelle Verständnis und den besseren Umgang mit eigenen aggressiven Verhaltensweisen, zum anderen für die gesellschaftliche Prävention.

Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Vermeidung von Gewalterfahrungen im Kindesalter, da diese einen bedeutenden Einfluss auf späteres aggressives Verhalten haben können.

 

Der Text stammt aus der RWTH-Interviewreihe „Große Fragen”. Das Interview führte Nicola König.

Bild: Heike Lachmann / RWTH Aachen