Klimaneutrales Gas – Correctiv Recherche zu Aachen, Stawag

✅ Klimaneutrales Gas? Gibt’s nur in der Werbung!

16. April 2024

Klimafreundlich trotz Gasheizung: Die Kompensation mit CO2-Zertifikaten soll das laut Energieversorgern möglich machen. Als Partner einer CORRECTIV-Recherche zeigen wir, dass diese Rechnung nicht aufgeht.

 

Von Alexander Plitsch

Deutschlandweit werben Erdgasversorger mit „klimaneutralem“ oder „klimafreundlichem“ Erdgas. Die Stawag als lokaler Versorger in Aachen vermarktet ihren Ökogas-Tarif unter anderem als „sauber“ und als „klimaneutrale Energie für Ihr Zuhause oder Ihr Unternehmen“.

Dahinter steckt das Prinzip der Kompensation: Klimaschädliche Emissionen durch Erdgas, etwa fürs Heizen, werden anderswo auf der Welt durch die Unterstützung von Klimaschutzprojekten ausgeglichen. Das Ergebnis, so die Gasversorger: Klimaneutrales Gas. Doch geht dieses Versprechen auf? Als Partner einer bundesweiten Recherche, koordiniert von CORRECTIV.Lokal, sind wir dieser Frage nachgegangen.

Für den Zeitraum 2011 bis 2024 hat CORRECTIV die CO2-Gutschriften von 150 deutschen Gasversorgern untersucht. Beteiligt waren unter anderem Wissenschaftler*innen des New Climate Institute, der ETH Zürich, der Berkeley University, des Öko Instituts in Berlin und der Deutschen Umwelthilfe (DUH).

Das Ergebnis ist deutlich: Rund 63 Prozent der insgesamt 16 Millionen ausgewerteten CO2-Gutschriften stammen aus Projekten, die nach wissenschaftlicher Einschätzung nicht zur Kompensation geeignet sind, weil bestimmte Qualitätsmerkmale nicht erfüllt wurden.

Anders gesagt: Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit wurden über 10 Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen reduziert als von den Gasversorgern gegenüber ihren Kund*innen behauptet.

Reaktion der Stawag steht aus

Und der Ökogas-Tarif der Stawag? Die Kund*innen unterstützen durch CO2-Zertifikate mit diesem Tarif derzeit ein Projekt zum Brunnenbau in Malawi, ein Projekt zum Bau und Betrieb von Windturbinen in Indien sowie ein Projekt zum Auffangen und Umwandeln von Grubengas in Gelsenkirchen.

Auf der Website der Stawag ist ein Zertifikat des TÜV Rheinland zu finden, das die Kompensation bestätigt. Eine Prüfung der ausgewählten Klimaschutzprojekte ist jedoch nicht Teil der Zertifizierung.

Das Grubengas-Projekt haben Expert*innen im Rahmen der CORRECTIV-Recherche kritisch eingeordnet. Die Begründung: Es fehle ein Nachweis, dass das Projekt nicht bereits im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) gefördert wird. Sollte es bereits gefördert werden, handelt es sich nicht wie gefordert um eine zusätzliche Reduzierung von CO2. Damit wäre das Projekt nicht zur Kompensation geeignet.

Da uns darüber hinaus keine wissenschaftliche Einschätzung zu den Klimaschutzprojekten vorliegt, mit denen die Stawag ihre Emissionen kompensiert, haben wir beim Versorger selbst nachgefragt. Bis zur Veröffentlichung dieses Beitrags haben wir keine Antwort auf unsere Fragen erhalten.

Aktualisierung am 18. April: Inzwischen hat die Stawag auf unsere Fragen reagiert. Den Ökogas-Tarif und die CO2-Zertifikate will man prüfen. Beim Grubengas-Projekt kommt die Stawag zu einer anderen Einschätzung als oben geschildert: Die Nutzung des Gases sei zwar durch das EEG förderungsfähig, allerdings sei eine Implementierung der hier eingesetzten Technologien durch schwankende Gasmengen eher unwirtschaftlich. Genau an dieser Stelle könne der Erlös aus dem Verkauf von CO2-Zertifikaten solche Vorhaben entscheidend in der Umsetzung unterstützen.

 

Klimaschutzprojekte dienen zur CO2-Kompensation von Erdgas

Das Klima schützen und Emissionen ausgleichen: Viele CO2-Zertifikate halten nicht, was sie versprechen.

 

„Ein Haufen Schrott”

Die gemeinsame Recherche von yonu mit CORRECTIV und weiteren Lokalmedien ist nicht die erste, die Probleme mit Klimazertifikaten aufgezeigt hat. Im vergangenen Jahr hat die ZEIT im Rahmen einer internationalen Recherche Waldschutzprojekte untersucht, die von Verra zertifiziert wurden. Verra ist eine NGO mit Sitz in den USA, die rund 75 Prozent des milliardenschweren Marktes mit freiwilligen Klimazertifikaten verantwortet.

Die Ergebnisse legen nahe, dass über 90 Prozent dieser Zertifikate wertlos sind. „Ein Haufen Schrott”, so das Fazit der ZEIT-Autor*innen.

Viele große deutsche Unternehmen hatten zuvor auf besagte Waldschutzprojekte bei ihrer CO2-Kompensation gesetzt – darunter Bayer, SAP und der VW-Konzern. Auch Rewe und Rossmann waren betroffen und reagierten, indem sie jegliche Werbung mit dem Begriff „klimaneutral” stoppten.

Es gibt kein klimaneutrales Erdgas

Die Frage, ob Unternehmen oder ihre Produkte durch den Einsatz von CO2-Zertifikaten „klimafreundlich“ oder „klimaneutral“ sein können, stellt sich allerdings unabhängig von der Qualität der Zertifikate und der ausgewählten Klimaschutzprojekte.

Schon der Begriff „Kompensation“ passt nur bedingt. „Wiedergutmachung“ trifft es vielleicht besser. Und sogar der von kritischen Stimmen oft vorgebrachte Vergleich zum „Ablasshandel“ lässt sich schwer von der Hand weisen.

Beim Ökogas-Beispiel wird das besonders deutlich: Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahr 2022, werden bei der Verbrennung von Erdgas große Mengen an CO2  sowie flüchtige Methanemissionen freigesetzt. Auch bei der Förderung und beim Transport kann es zum Austritt von Methan kommen. Ein Treibhausgas, das – betrachtet auf einen Zeitraum von 100 Jahren – rund 28 bis 34 Mal klimaschädlicher ist als CO2.

„Klimaneutrales Erdgas als Werbeversprechen ist eher ein Narrativ, um die fossilen Geschäftsmodelle länger aufrechtzuerhalten”, sagte Claudia Kemfert, Umweltökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), gegenüber CORRECTIV.

EU verbietet irreführende Umwelt- und Klimaschutzaussagen

Auch in der Politik ist die vielstimmige Kritik am freiwilligen Kompensationsmarkt längst angekommen. Anfang dieses Jahres hat die EU die „Richtlinie zur Stärkung der Verbraucher für den ökologischen Wandel“ beschlossen. Sie sieht unter anderem vor, dass irreführende Umweltaussagen aufgrund von CO2-Kompensation verboten werden. In den EU-Ländern tritt die Richtlinie ab 2026 in Kraft.

Eine Kennzeichnung wie „klimaneutral” ist dann nur noch erlaubt, wenn sie auf den tatsächlichen Auswirkungen auf den Lebenszyklus des jeweiligen Produkts beruht und sich nicht auf die Kompensation von Emissionen bezieht. Ein Ökogas-Tarif wie der der Stawag müsste demnach künftig anders beworben werden.

Anna Cavazzini, Abgeordnete der Grünen im EU-Parlament und Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucher, sieht in der Neuregelung einen wichtigen Schritt: „Natürlich sind Investitionen von Gasversorgern in Klimaschutzprojekte weiterhin willkommen”, sagte sie gegenüber CORRECTIV. Es dürfe aber nicht der Eindruck entstehen, „dass das Baumpflanzen im Regenwald die Produktion, den Transport oder eben das Gas selbst klimaneutral macht.”

Hat die Kompensation noch Zukunft?

Die Kompensation bleibt auch zukünftig ein wichtiges Mittel im Klimaschutz – auch wenn es stets das letzte Mittel sein sollte, das nur für die Emissionen eingesetzt wird, die nicht selbst vermieden werden können.

Die freiwillige Kompensation mit Zertifikaten, wie sie heute funktioniert, kann dafür aber nicht die Lösung sein. Es fehlt eine übergeordnete Regulierung, die Qualität der Zertifikate und ausgewählten Projekte ist zu oft mangelhaft und für die Unternehmen und Verbraucher*innen entstehen falsche Anreize, wenn klimaschädliche Produkte durch die Kompensation als klimafreundlich dargestellt werden.

Zurück zum Ökogas-Beispiel: Was könnte hierfür eine Lösung sein? Der Anfang ist sicher eine ehrliche Kommunikation der Versorger. Dazu gehört, die Nutzung von fossilem Erdgas klar als klimaschädliches Auslaufmodell zu bezeichnen.

Ein zweiter Schritt könnte eine Reform des freiwilligen Kompensationsmarktes sein: bessere Regulierung, Qualitätssicherung bei den Projekten, Vermeidung von Doppelzählungen der Einsparungen. Es gibt aber auch Expert*innen, die nicht mehr an eine solche Reform glauben. „Die Idee der Kompensation ist tot”, sagte etwa Carsten Warnecke vom Kölner Thinktank NewClimate Institut gegenüber ZEIT Online.

Ein alternativer Ansatz könnten die sogenannten „Contribution Claims“ sein. Das Konzept sieht vor, dass Unternehmen weiterhin neben der eigenen Reduktion von Emissionen andere Klimaschutzprojekte unterstützen. Die dadurch erreichten Einsparungen werden aber nicht auf die Bilanz der Unternehmen, sondern nur auf die Bilanz der jeweiligen Länder angerechnet.

Die Expert*innen des wissenschaftlichen Projekts „Energiesysteme der Zukunft” (ESYS) attestieren den Contribution Claims, Fehlanreize für Unternehmen und Verbraucher*innen reduzieren zu können. Außerdem sei es denkbar, dass dadurch vermehrt innovative Klimaschutzlösungen gefördert werden, deren Klimaschutzeffekt nicht unmittelbar quantifizierbar ist, die aber langfristig bedeutende Wirkung entfalten.

 

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von yonu und CORRECTIV.Lokal. Das Lokaljournalismus-Netzwerk recherchiert zu verschiedenen Themen, darunter in einem Schwerpunkt über die Klimakrise. Weitere Infos unter correctiv.org/klima.