Wir müssen nicht für Freiheit kämpfen, wir können sie wählen

7. Juni 2024

Gedanken zur Bedeutung der Europäischen Union, zur Europawahl am Sonntag und zur Lethargie im Wahlkampf in Aachen und darüber hinaus.

Ein Kommentar von Alexander Plitsch

Es ist der frühe Morgen des 6. Juni 1944, an der nordfranzösischen Küste herrscht Ebbe. In den Stellungen der deutschen Wehrmacht ahnt niemand, dass dieser Tag der Auftakt zur größten See-Land-Schlacht ist, die unsere Welt je gesehen hat.

„Operation Overlord“ bringt an diesem Morgen über 160.000 alliierte Soldaten an die Landungsstrände, zum großen Teil junge Wehrpflichtige, 17-Jährige und 18-Jährige, fern ihrer Heimat. Im Namen der Freiheit sind sie gekommen – und im Namen der Freiheit werden sie zu Tausenden im deutschen Geschützfeuer fallen.

Genau 80 Jahre sind seit dem „D-Day“ vergangen. Nur 80 Jahre, ein Wimpernschlag in der Menschheitsgeschichte. Noch immer gibt es sie, die wenigen Veteranen, die bei den großen Jubiläumsfeierlichkeiten am Omaha Beach ihren gefallenen Kameraden gedenken, vermutlich ein letztes Mal. Emmanuel Macron ist gekommen, Justin Trudeau, natürlich Joe Biden.

Nicht geladen ist Wladimir Putin. Vor zehn Jahren war er noch dabei – doch seitdem ist viel passiert. Der ukrainische Präsident Volodymyr Selenskyj ist hingegen vor Ort – ein klares Zeichen, genau wie der nicht enden wollende Applaus bei seinem Erscheinen. Der Frieden ist wieder in Gefahr in Europa, für die Freiheit wird wieder gekämpft in Europa.

Podiumsdiskussion der IHK Aachen zur Europawahl

Das Podium bei der Wahlarena der IHK Aachen zur Europawahl (Foto: Alexander Plitsch).

 

Wo ist die Europabegeisterung im Herzen Europas?

Ortswechsel: Aachen, Industrie- und Handelskammer, 7. Juni 2024. Die IHK hat zur „Wahlarena” geladen – gekommen sind die Aachener Europaabgeordneten Sabine Verheyen (CDU) und Daniel Freund (Grüne) sowie Kandidat*innen von FDP, SPD, Bündnis Sahra Wagenknecht – und auch die AfD darf mitdiskutieren.

Ein vollbesetztes Podium, doch leider kaum Publikum. Zieht man IHK-Mitarbeitende, mitgebrachte „Friends & Family“ der Kandidat*innen und Journalisten ab, bleibt nur eine Handvoll Interessierte. Wo sind sie, die geladenen Aachener Unternehmer*innen? Wo ist sie, die Europabegeisterung in der Stadt, die sich gerne als „Herz Europas“ versteht?

Mit der EU verbinden viele Menschen heute wohl in erster Linie den bürokratischen Apparat in Brüssel. Auch auf dem Podium der IHK steht das Thema „Bürokratieabbau“ ganz oben auf der Agenda. Es geht um Dokumentationspflichten und Förderanträge, später auch um Handelsabkommen und Subventionen.

Wichtige Themen natürlich, aber wohl kaum Ausdruck der großen „Zeitenwende“, von der in diesen Tagen oft die Rede ist. Der Ukraine-Krieg, Klimaschutz, Migration – es gibt gewaltige Aufgaben, es steht viel auf dem Spiel bei dieser Wahl. Es droht ein Machtzuwachs für die Parteien, die Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit nicht in Europa, sondern wieder im Nationalstaat suchen wollen.

Auch die weitere europäische Integration steht zur Debatte. Nicht nur die horizontale Erweiterung – welche weiteren Mitgliedsländer nimmt die EU künftig auf? – sondern auch die vertikale Erweiterung und Stärkung der EU: Sollen künftig auch für sicherheits- und außenpolitische Fragen Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit möglich sein? Soll das Parlament in seinen Rechten und Zuständigkeiten gestärkt werden, um die EU weiter zu demokratisieren? Soll die EU mehr Mittel erhalten, um in den großen Zukunftsthemen unabhängiger von den Regierungen der Mitgliedsländer zu sein?

Plakate zur Europawahl am Ponttor in Aachen

 

Ein Straßenwahlkampf der Plattitüden

Doch nicht nur auf dem Podium der IHK kommen diese großen Kontroversen nicht zur Geltung. Das Gleiche gilt für den gesamten Wahlkampf. Die Diskrepanz zwischen der Bedeutung dieser Wahl und der wahrnehmbaren Europalethargie könnte kaum größer sein.

Bezeichnend auch das Bild auf den Straßen: Mit viel Geld haben die großen Parteien wieder den öffentlichen Raum mit ihren Plakaten zugepflastert. Um uns was zu sagen? „Es ist nicht egal. Es ist Europa.”, sagt die FDP – „Ein starkes Europa bedeutet ein sicheres Deutschland.”, sagen die Grünen.

CDU und SPD bieten beide einen „klaren Kurs für Europa“ – auch das Schlagwort „Sicherheit“ haben beide Parteien ohne weitere Konkretisierung im Angebot. Die CDU hat zur Sicherheit auch noch den „Wohlstand“ mit ins Portfolio genommen. Der kann nie schaden.

Etwas mutiger und einfallsreicher sind mitunter die kleinen Parteien. Insbesondere die Plakate von Volt stechen in Aachen ins Auge: Das auffällige Lila erweitert das gewohnte Farbspektrum im Wahlkampf-Straßenbild – und Sprüche wie „Sei kein Arschloch” und „Für mehr Eis“ fallen aus dem Rahmen der sonstigen Plattitüden.

Die junge Generation gibt Anlass zur Hoffnung

„Wie können die Menschen mehr für die EU begeistert werden?”, lautet eine Frage aus dem Publikum bei der IHK-Wahlarena. Konkrete Ideen haben die Kandidat*innen hierfür nicht – tatsächlich ist die Frage ja auch knifflig. Sicher ist die Politik hier gefragt – aber auch die Medien stehen in der Verantwortung. Wirklich europäisch orientierte Berichterstattung gibt es kaum, konstruktive schon gar nicht.

Die weitere Demokratisierung der EU ist sicher ein Baustein: eine Direktwahl der Kommissionspräsidentin zum Beispiel. Oder europäische Wahllisten. Um jungen Menschen die Bedeutung und die Vorteile der EU zu vermitteln, muss der Stellenwert von Politikunterricht in der Schule gesteigert werden. Programme wie Erasmus und Interrail, mit denen Jugendliche andere EU-Länder kennenlernen, sollten ausgebaut werden.

Tatsächlich macht die junge Generation Hoffnung: Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung zeigt, dass junge Menschen im Durchschnitt eine positivere Einstellung gegenüber der EU haben als Ältere – in Deutschland, aber auch in anderen EU-Ländern. Zum ersten Mal können in diesem Jahr in Deutschland schon 16-Jährige wählen. Doch hier scheint es noch zu hapern: Der gleichen Studie zufolge haben ausgerechnet die Jüngsten die niedrigste Bereitschaft, wählen zu gehen.

Auch außerschulische politische Bildung muss deshalb in den Fokus der Politik rücken: Aufgrund von Sparzwängen droht hier bei der Ampelregierung derzeit eher der Rotstift – doch das ist definitiv nicht der richtige Bereich für Kürzungen.

Deutschland verdankt der EU besonders viel

Die AfD will laut Wahlprogramm das EU-Parlament abschaffen und liebäugelt mit einem „Dexit“ nach britischem Vorbild. Kandidatin Irmhild Boßdorf begründet dies in der IHK-Wahlarena mit einem „aufgeblähten Bürokratieapparat“ und sagt: „Die EU ist nicht reformierbar.“

Was für ein historisches Missverständnis. Waren doch Wirtschaftsverträge und die gemeinsame Verwaltung auf europäischer Ebene stets nur Mittel zum Zweck. „Damit der Frieden eine echte Chance hat, muss es zuerst ein Europa geben”, sagte der französische Außenminister Robert Schumann 1950. An die Stelle der Überwachung und Eindämmung Deutschlands sollten ab sofort Zusammenarbeit auf Augenhöhe und Solidarität treten.

Dieser Weitsichtigkeit, dieser europäischen Grundhaltung verdanken wir Deutschen auch heute noch so viel. Ohne diese Entscheidung wäre die folgende Entwicklung Deutschlands – das Wirtschaftswunder, die Wiedervereinigung, die heutige Rolle Deutschlands in der Welt – kaum möglich gewesen. Nur Geschichtsvergessene können ausgerechnet in Deutschland auf die Idee kommen, der Europäischen Union den Rücken zu kehren.

Die EU ist kein Bürokratieprojekt, sie ist ein Friedensprojekt. Ein Demokratieprojekt. Ein Projekt für die Freiheit in Europa. Für dieses Projekt und diese Freiheit sollten wir eintreten, selbstverständlich am Sonntag wählen gehen und einer der demokratischen Parteien unsere Stimme geben.

Welch Privileg, diesen Freiheitskampf mit einem Wahlzettel in der Hand zu führen – und nicht mit einem Gewehr, an einem Strand fern der Heimat, den Geschützen des Feindes ohne Deckung ausgeliefert.

 

Titelbild: USAF – National Museum of the U.S. Air Force photo 050606-F-1234P-039, Gemeinfrei, Wikipedia